adrianoesch

über technologie, gesellschaftlicher druck und kolumbus

In random on 5. November 2011 at 14:56

zurzeit beherberge ich eine couchsurferin. sie besitzt zwar ein handy, benutzt es aber nicht, da sie die roaminggebühren sparen will. das stellt mich vor ungeahnte herausvorderungen. wie sollen wir uns irgendwo verabreden? was, wenn sie mal zuspät unterwegs ist? muss ich dann eine halbe stunde im unwissen belassend auf sie warten? ich gehe morgens aus dem haus und habe danach keine möglichkeit mehr, mit ihr kontakt aufzunehmen, und sehe sie dann halt erst abends wieder. es führt mir vor augen, wie schnell man sich an neue technologien gewöhnt. ich wäre sehr wohl bereit, mehr zeit mit ihr zu verbringen, zusammen zu essen, ihr auch mal die stadt zu zeigen etc. sie vergrössert den mehraufwand – den ich zu leisten hätte – jedoch in einem ausmass, dass ich nicht mehr bereit bin, ihn zu erbringen, schade.

und gestern hat mir ein freund geschildert, wie er sich gedrängt fühlt, ein smartphone zu kaufen, weil ihm so seine freunde auf whatsapp – also quasi gratis – nachrichten schreiben könnten. bis anhin müssten sie ihm sms schreiben, was ja kostenpflichtig sei. er habe deswegen ein wenig ein schlechtes gewissen.

diese kleine anekdoten haben mich zur vielleicht banalen erkenntnis gebracht, dass nie die technologie selbst druck auf die menschen ausübt, sondern dass es immer die gesellschaft selbst ist. wenn eine neue technologie anwendung findet und deren nutzer sich mit der zeit an dessen vorhanden gewöhnen, werden sie immer weniger bereit sein, auf den erfahrenen komfort zu verzichten. daraus folgt ein gesellschaftlicher druck neue technologien zu adaptieren. viele menschen haben hingegen angst vor neuen technologien und nicht vor deren benutzer. (wieso wäre ein sehr spannende frage auf die ich vielleicht ein andermal eingehen werde. ich glaube, es hat mit wissen über die gegenwart und wie es dazu kam, zu tun.)

eine neue technologie für sich macht gar nichts. findet eine neue technologie jedoch anwendung, lässt sich aus einem deterministischen weltbild argumentieren, dass diese offensichtlich ein bedürfnis befriedigt. je grösser der kreis der benutzer wird, desto grösser war also auch das bedürfnis danach in der bevölkerung vorhanden. weil man aber nicht wissen kann, was man nicht weiss, ist diese befriedigung der bedürfnisse für „aussenstehende“ nicht ersichtlich. ich glaube, darauf bezieht sich auch dirk baecker, wenn er sagt, jedes neue medium bringt sinnüberschuss mit sich. man kann im vornherein gar nicht wissen, was man alles mit einer neuen technologie machen kann. dazu fällt mir spontan das zeitalter der entdecker und der mythos um kolumbus ein. die seefahrer brachen in die ungewisse ferne auf, getrieben von der neugier. sind die tech-nerds, die immer das neuste gadget und die neuste app haben müssen, also die kolumbi (besser als kolumbusse) von heute? häufig implizieren innovationen viel grössere veränderungen als von den erfindern intendiert war. sie konnten sich des überschusses an sinn gar nicht bewusst sein. ich bin philosophisch wenig sattelfest, möchte hier nichsdestotrotz eine assotiation mit sartre wagen. dieser meinte: „die existenz geht der essenz voraus“. baecker sagt dasselbe bezieht es aber auf medien, nicht?

  1. Ich glaube, der Kolumbusvergleich passt nicht ganz, denn die Tech-Nerds entdecken ja nicht das Land selber, sondern machen es sozusagen als erste urbar. Um im Bild zu bleiben: Sie sind die Kolonisatoren, Händler und Siedler, die Kolumbus nachfolgen. (Und sind wir nicht alle ein bisschen Imperialist?)
    Baecker und Sarte techno-philosophisch zusammenzudenken scheint mit interessant, das könnte man weiter vertiefen. Umgekehrt muss man dann auch sehen, dass der „Sinnüberschuss“ immer auch einen „Unsinnüberschuss“ produziert oder sagen wir besser, dass die technologisch induzierte Kontingenzsteigerung nicht nur eine der neuen Möglichkeiten, sondern auch der neuen Schwierigkeiten ist. In diesem Sinne verstehe ich jedenfalls Baeckers These der gesellschaftlichen Selbstüberforderung.

  2. danke für dein feedback. zum vergleich: ich gebe dir in dem sinne recht, dass kolumbus eine einzelperson war, die tech-nerds hingegen eine gruppe darstellen. ich zählte kolumbus zur gruppe der kolonisatoren etc., die ja alle noch ähnliche eigenschaften mit sich bringen mussten (mut, neugier, usw.), und auch noch lange neues land (nicht das land) entdeckten. kolumbus war einfach ein einzelner früher akteur und daher eine gallionsfigur. wenn man also die urbarmachung von neuem land als entdeckung des überschüssigen sinnes sieht, kann man sehrwohl die gruppe der earyl-adopters als entdecker von neuem land sehen. es handelt sich wahrscheinlich nur um graduelle unterscheidungen, wer wie früh was macht/entdeckt.

    vielleicht noch einen einwand zum kolonialisationsvergleich des verlinkten artikels: ein signifikanter unterschied scheint mir zu sein, dass das anscheinend „neu“ entdeckte land, oftmals bereits von ureinwohner „bewohnt“ wurde, es also gar nicht richtig „neu“ war. ich würde die early-adopters nicht also ureinwohner betrachten. sie stellen keine eigentliche ethnie dar und der zeitunterschied, zwischen wirklicher entdeckung (erstbenutzung) und neuentdeckung (kolonialisation) scheint mir dafür zu gering. der „kampf“ um das neue land würd ich viel mehr als konkurrieren verschiedener kolonial-nationen sehen.

    und zuletzt, zu sartre und baecker. ein versuch der erweiterung (ich kenne beide wirklich nur umrisshaft): die existenz für sich, stellt eine überforderung an sinn dar. der mensch versucht immer alles kausal zu erklären (?), daher sucht er ständig nach einer essenz oder deren erweiterung. wenn ich mir das so überlege, scheint mir das auch direkt ableitbar aus der evolutionstheorie. dna verändert sich nie direktiv (mit einem ziel/ in eine richtung) sondern zufällig. erst durch die selektion ergeben sich kausalzusammenhänge, sprich erst durch die selektion zeigt sich eine mutation als sinnvoll oder nicht. die dna existiert zuerst, und später findet selektion statt. alles vage, aber ich bleibe am ball ;)

  3. Obschon unvermeidlich, ist die Metaphorisierung von Medien natürlich immer problematisch. Man kann die Metapher wie Vergleiche immer an den Punkt bringen, wo sie zusammenbrechen, nicht mehr tragen. Mein Einwand (1) und mein Link (2) zielten auf zweierlei:

    (1) Early Adopters nutzen immer schon Techniken die andere bereits er-funden haben. In diesem Zusammenhang würde ich also die Entwickler als die eigentlichen Kolumbi/Kolumbusse beschreiben und die Early Adopters als die ersten Vollstrecker der digitalen Landnahme. Kolumbus wäre also derjenige, der den Sinnüberschuss erst stiftet und die Early Adopters diejenisen, die damit dann irgendwie etwas anzufangen versuchen.
    (2) Der Kolonisierungsvergleich zielt eher auf die Ökonomisierung dieses Prozesses. Die Frühphase des Internet und dessen Kommerzialisierung lässt sich in einem gewissen Sinne durchaus als ein Verhältnis von Eingeborenen und Nachzüglern beschreiben. Die Entdeckung des neuen Mediums durch die Massen (also der Übergang von einem akademischen zu einem Massenmedium) wurde durch die Internetkonzerne dann entsprechend inszeniert: Setzt die Segel!

    Dass sich der „Kampf“ um das neue Land dann als ein Konkurrieren verschiedener Kolonial-Nationen beschreiben ließe, darin würde ich Dir zustimmen.

    Eine mögliche Baecker-Sarte-Connection würde ich jetzt eher nicht evolutionär abzuleiten versuchen, zumindest nicht aus der Selektionstheorie. Das bringt m.E. noch mehr Voraussetzungen ins Spiel, als man damit ohnehin schon treffen muss. Obwohl ich sehe, worauf Du damit hinaus zu wollen scheinst. Ich denke aber, das kann man auch so beschreiben. Gerade die digitalen Medien (die ja der Kern der „nächsten Gesellschaft“) sind) werden nicht mehr für spezifische Zwecke geschaffen. Man macht erstmal etwas, weil es geht, ohne dass man weiß, welchen Sinn das hat, und dann macht jemand plötzlich etwas damit, das man so nicht vorhergesehen hat – siehe Twitter und die Arabische Revolution.

    Umgekehrt erwachsen aus der Technologie aber auch neue Zwänge und Überforderungen, die ja v.a. Baeckers Thema zu sein scheinen. Information Overload, Datenschutz/Überwachung, Algorithmenterror, und all das: sind oft nicht-intendierte Technikfolgen, die sich nicht nur aus menschlichen Adaptionen eines Sinnüberschusses ergeben, sondern bisweilen, oder immer öfter, auch aus der Selbstverwertung des Möglichen durch die Technik – das heißt, die Stiftung von Sinn und Unsinn durch die Maschinen selbst, die uns Menschen dann überfordert.

    • (der link scheint nicht zu funktionnieren)

      (1) kolumbus war doch eben nicht der erfinder der technik. segelschiffe gab es ja bereits seit längerer zeit. er gehört somit zur gruppe der early-adopters die die möglichkeiten der technik ausreizten, den überschusssinn entdeckten.

      (2) auch einverstanden.

      was meinst du mit voraussetzungen? ein vergleich setzt ja nicht ein identisch-sein der zu vergleichenden paradigmen voraus. es geht doch mehr darum, gleiches und unterschiedliches herauszufiltern. ich halte analogien deswegen eben für so erkenntnisreich, weil sie zusammenhänge und „nicht-zusammenhänge“ aufdecken. zudem beschreibst du weiter unten ja genau einen „evolutionär selektiven prozess“ in der technischen entwicklung, da ist der verweis auf die evolution doch nur angebracht und mit der memetik sogar bereits angedacht.

      (ein kleiner zusatz, der mir ein direktes resultat des kolumbus-earlyadopters-vergleich zu sein scheint: früher konnten neue techniken oftmals von den erfinder ausprobiert werden. wer beispielsweise das erste mal einen taubenbrief versendete, brauchte dazu lediglich einen empfänger. bei heutigen innovationen im kommunikationsbereich lassen sich erfindungen jedoch nicht mehr von individuen oder kleinen gruppen erproben, da das potential erst mit genügend masse entfaltet werden kann. das eröffnet wieder ein ganz neues gedankenspielfeld um die stichworte netzwerk, gesellschaft und interdependenz etc.)

  4. Sorry wegen des verhunzten Links, hier noch mal der richtige.

    Dass Kolumbus die Schifffahrt nicht erfunden hat, war mir schon klar. ;) Ihn jedoch als Early Adopter zu beschreiben, bedeutet die Metapher umzukehren und die Verhältnisse der digitalen „Neulands“ auf die Entdeckung des historischen Neulands zu übertragen. Schon offenbaren sich die Fallstricke tropischen Sprechens. Während das geographische Land ja schon dar war, wird das digitale erst durch die Technologie entdeckt. Deshalb würde ich eher den Typ des Programmierers als Kolumbus beschreiben, weil er für die User ja erstmal das Land eröffnet. Kolumbus wäre also (in der prekären Umkehrung) eher ein Programmierer gewesen, der den Kurs berechnet und die Route erschlossen hat, auf der ihm die Siedler dann nachfolgen konnten.

    Mit den problematischen evolutionstheoretischen Voraussetzungen meinte ich solche Analogie-Konstrukte wie z.B. die Meme. Natürlich können uns Analogien helfen, neue Zusammenhänge zu erkennen und zu beschreiben. Aber wie Du ja auch an unserem Metaphern-Sprachspiel siehst (und gute Metaphern sind oft auch nur komprimierte Analogien), kann dies eben auch schnell auf Abwege führen, insbesondere dann, wenn die Analogie nicht metaphorisch, sondern begrifflich auftritt. So bin ich eher skeptisch, was die Konstruktion der Meme anbelangt. Das scheint mir nur eine Verdinglichung sozialer Prozesse zu sein. Sinn wird ja nicht selegiert, sondern gestiftet.

    Was Deinen Zusatz anbelangt, so würde ich sagen, auch moderne Kommunikationstechnologien werden zunächst von Klein- bzw. Entwicklergruppen getestet. Aber das Internet als Kommunikationstechnologie bzw Medium ist dann etwas, das es nur in großen Kollaborationszusammenhängen gibt. Als solches aber hat es auch keinen Erfinder mehr. Wenn man es gern in Begriffen der Evolution beschreiben will, dann ist es wohl eher das Resultat einer komplexen Ko-Evolution.

  5. worin liegt der fallstrick der übertragung vom historischen, geographischen neuland auf das digitale neuland, wenn man digitales neuland als überschusssinn sieht, den es noch zu entdecken gilt? die technischen möglichkeiten gibt es ja bereits, nur wissen wir sie noch nicht zu nutzen (=überschusssinn), genau wie beim geographischen neuland, das ja existierte aber noch nicht zugänglich war.
    ich finde die sichtweise von kolumbus als programmierer unpassend, da sie die ganze erfinder vs nutzer, intention der erfindung vs überschusssinn analogien durcheinander bringt. in der umkehrung könnte kolumbus beispielsweise der erste sender einer email, der durch den neuigkeitsgehalt seiner tat zur gallionsfigur wurde darstellen. der entwickler des mailprogrammes hat es vielleicht erst in einer sicheren test umgebung zwischen zwei computern innerhalb eines gebäudes probiert (seefahrt spanien – frankreich). kolumbus – als nutzer – hat hingegen es als erster „gewagt“ eine email ausserhalb der testumgebung zu versenden, was ihm dann alle gleich taten ;) ich sehe ein, der vergleich ist ein bisschen überstrapaziert, nichtsdestotrotz lassen sich viele mechanismen erkennen die ähnlich oder eben nicht ähnlich sind.

    wenn du meme als versächlicht (reifiziert) betrachtest, sind doch jegliche mentale konstrukte verdinglicht? ist dann nicht jegliche analyse sozialer prozesse eine verdinglichung, wenn analyse soviel wie „zergliederung“ – also auch aufteilung in dinge – bedeutet? und wenn nicht, wie unterscheidest du zwischen verschiedenen mentalen konstrukten, ob sie verdinglicht sind oder nicht?

    nun wird es noch interessanter ;) schliesst sich sinnstiftung und sinnselektion wirklich aus? aus eine konstruktivistischen perspektive bejahe ich das konzept der sinnstiftung klar. aber könnte es nicht sein, dass wir sinn erst nachträglich, nach einer selektion stiften (können)? du hast selber geschrieben: „Man macht erstmal etwas, weil es geht, ohne dass man weiß, welchen Sinn das hat, und dann macht jemand plötzlich etwas damit, das man so nicht vorhergesehen hat – siehe Twitter und die Arabische Revolution.“ erst wenn wir kausalketten erkennen, sinn also selegiert wurde, können wir sinn zuordnen/stiften. die sinnstiftung wäre demnach von der selektion abhängig. ein für mich faszinierender gedanke, der gerade zum konzept des sinnüberschusses meiner ansicht nach gut passen würde.

    deinem letzten gedanken schliesse ich mich vollends an. ko-evolution. ein sehr schönes wort ;) da fällt mir sofort auch wieder der vortrag martin nowaks über altruismus, kooperation und evolution ein.

  6. Mit unserer Kolumbus-Analogie kommen wir wahrscheinlich auf keinen grünen Zweig, aber das ist ja weder schlimm noch schlecht. Viel ist sie gerade deshalb gut, weil sie das Verhältnis von „intention der erfindung vs überschusssinn … durcheinanderbringt“. Vielleicht liegt das Problem darin, dass das kolumbische Subjekt im Bereich des Digitalen gespalten bzw. verteilt, d.h. also ein Kollektivsubjekt ist: Während es Amerika bereits ohne das Zutun eines Europäers gab, und ein Europäer es erst entdecken musste (Kolumbus war übrigens auch nicht der erste, aber eben der mit dem weltgeschichtlichen Branding), wird das digitale Neuland ja von Menschen geschaffen (programmiert), um von Menschen entdeckt und besiedelt zu werden. Die Early Adopters kennen also, anders als Kolumbus, bereits die Route und die Küsten des neuen Landes (Adresse, Apps, etc.) und fangen an, es zu erschließen. Von daher meine ich, sie gleichen als eher den Konquistatoren (ohne damit auch notwendig die ideologischen Implikationen der Kolonisation mit zu meinen, die man eher im Kontext der Ökonomisierung des Neulands zu konnotieren geneigt sein mag).

    Wenn man an der Analogie ersthaft, und nicht nur wie wir gerade spielerisch, festhalten will, müsste man sich schon genauer fragen, was mit dem digitalen Neuland genau gemeint ist: die bloße Technologie, ihren möglichen Gebrauch oder ihre Inhalte? Mit der Unterscheidung ließen sich vielleicht auch unsere unterschiedlichen Auffassungen genauer konturieren: Geht es z.B. um bestimmte Geräte oder Applikationen und wie man sie nutzen kann? Dann könnte man tatsächlich sagen, dass z.B. der Gebrauch von Twitter als soziales Kommunikationsmittel für kollektive Verhaltenskoordinationen in politischen Protesten soetwas wie die Entdeckung gesellschaftlichen Neulands darstellt. Oder geht es eher darum, wie Informationen durch diese Geräte und Applikationen verteilt werden? Dann könnte man z.B. das www als das bereits entdeckte (programmierte) Neuland beschreiben und die Produktion und das Abrufen von Websites (Nutzung) als die Besiedlung bzw. Kolonisierung. In beiden Fällen würde ich sagen, dass das kolumbische Subjekt kollektiv ist. Darin stimmen wir offenbar überein. Wer dieses Kollektiv ist, hängt dann einfach davon ab, was genau man als „Neuland“ beschreiben möchte.

    Wegen der Meme und ihrer Reifikation: Ich würde nicht sagen, dass jede Analyse schon eine Verdinglichung ist. Oftmals ist es ja gerade das Ergebnis einer Analyse, dass man keinen absoluten atomaren Zustand auffindet, an dem es nichts mehr weiter zu analysieren gäbe. Man hört meist einfach irgendwo auf, wenn es einem sinnvoll oder weiterführend erscheint. Die Meme aber halte ich nicht für das Ergebnis einer Analyse sondern einer Analogie, mit der man so etwas wie eine autonome Identität von Gedanken hypostasiert, die sozusagen durch die Hirne der Menschen wandern und sich durch sie vermehren. (Jedenfalls wenn ich das richtig verstanden habe. Du kannst mich auch gern korrieren.) Das ist natürlich eine berückende Idee, scheint mir in letzter Instanz aber nur eine Art darwinistischer Platonismus zu sein, eine Metaphysik der Kognitionen, Platons Ideenhimmel in der freien Wildbahn der Informationsgesellschaft. Als ein Beschreibungsmodell zur Verbreitung von Ideen mag es ja ganz anschaulich sein, aber ich würde bestreiten, dass Gedanken unter Selektionsdruck in einem survival of the fittest um ihren Fortbestand konkurrieren. Ich halte das noch nicht mal für eine biologische, sondern für eine kapitalistische Analogie. Deswegen kommt sie vermutlich so vielen plausibel vor: Das kennen wir ja… ;)

    Was die Sinnselektion betrifft: Was genau müsste man sich darunter vorstellen? Hast Du dafür ein Beispiel?

    Last but not least @Co-Evolution: Da gabe es vor ein paar Jahrzehnten auch mal eine Zeitschrift gleichen Namens im Dunstkreis des Whole Earth Catalog. Die kannst sie z.B. hier online durchblättern: http://www.wholeearth.com/issue-electronic-edition.php?iss=2001

    • mit kolumbus als kollektivem subjekt kann ich gut leben. und mit den unterschiedlichen definitionen von neuland als ursache unserer verschiedener ansichten, stimme ich ebenfalls überein. du hast ja bereits verschiedene optionen aufgezeigt.

      ich habe mühe mit dem begriff der verdinglichung. ich sehe das mem viel mehr als ein mentales konstrukt wie z.b. intelligenz, kultur etc. nur weil die memetik als analogie zur genetik gedacht ist, wird es doch nicht automatisch verdinglicht. behauptet denn jemand, es gäbe ein mem in einem atomaren zustand? und selbst wer das so sieht (neurobiologen, naturalisten http://de.wikipedia.org/wiki/Naturalismus_(Philosophie)), müsste doch konsequenterweise intelligenz und derartiges ebenfalls als verdinglicht betrachten. die unterscheidung bringt uns also nicht wirklich weiter.

      man könnte vielleicht aus einer deterministischen sicht, meme als autonome idetitäten betrachten, worüber ich nicht abgeneigt wäre, aber in der diskussion darüber führt das oftmals zu missverständnissen, da das gegenüber nicht die gleiche betrachtung mit sich bringt, weswegen ich diese interpretation ablehnen würde.

      meme sind aus meiner sicht nicht autonome identitäten, da jeder mensch ein mem ablehnen oder annehmen kann. ich kann mich entscheiden, ob ich meine texte mit dem mem der creative-commons-lizenz versehen will, oder nicht. mir erscheint gerade die idee des selektionsdruckes nach dem prinzip „survival of the fittest“ so ansprechend. wie siehst du sie als kapitalistisch? wird nicht die erklärung, die am meisten aufklärungsvarianz bietet als „wahr“ betrachtet? jeder erfährt eine andere wirklichkeit, weswegen es auch eine enorme diversität an erklärungsansätzen gibt. richtig und falsch wird von jedem anders definiert. da passen die mechanismen der genetik sehr gut. eine these die von niemanden als „wahr“ betrachtet wird, quasi ein mem ohne träger, wird aussterben, oder ein schattendasein führen.

      die idee der sinnselektion möcht ich erst mal noch ein bisschen weiter spinnen und evt dann mal in einem text präsentieren. zeit ist derzeit mangelware ;)

  7. Ich habe erst jetzt bemerkt, dass Du noch einmal darauf geantwortet hast, daher meine verspätete Replik.

    Bezüglich der Verdinglichung oder Autonomie der Meme: so wir ich die Theorie verstanden haben (und ich beziehe mich hier der Einfachheit halber mal auf den Wikipedia-Konsens), wird unter einem Mem „eine Gedankeneinheit, die sich durch Kommunikation ihrer Träger vervielfältigt“ verstanden. Dafür muss sie also eine Identität besitzen. Denn sonst wäre es ja keine identifizierbare Einheit. Nun schreibst Du aber selbst, „richtig und falsch wird von jedem anders definiert“. Mehr noch, muss man sagen, dass man einen Gedanken (Mem), ja nicht nur als „richtig oder falsch“, sondern überhaupt verschieden verstehen kann. So wie wir hier z.B. die „Gedankeneinheit Mem“. Vielleicht verstehen wir ja beide etwas ganz unterschiedliches darunter, ganz unabhängig davon, ob wir das, was wir verstehen, für wahr halten oder nicht. Wenn wir aber etwas Unterschiedliches darunter verstehen, dann ist die Bezeichnung einer Gedanken- bzw. Informationseinheit verfehlt. Und wenn sie verfehlt ist, dann ist die Annahme ihrer Identität nur eine Verdinglichung von etwas Nicht-Identischem.

    Kann aber etwas Nicht-Identisches einem Selektionsdruck unterliegen? Wenn das nicht geht, aber trotzdem plausibel erscheint, dann können die Kriterien der Plausibilität nicht aus der Sache selbst, sondern müssen von woanders her stammen. Daher meine Annahme, dass sie aus dem sozialdarwinistischen survival of the fittest stammen, wie er uns in der Form des kapitalistischen Erfolgsdrucks bekannt ist. Diese Form ist uns durch Erfahrung zugänglich, die Selektion und Vervielfältigung von Memen nicht, die sind nur Theorie. Darum mutmaße ich eine ideologische Verdinglichung qua Analogie.

    Identität und Wahrheit scheinen mir jedenfalls nicht die richtigen Kriterien dafür zu sein, warum sich bestimmte Denkmuster kulturell durchsetzen. „wird nicht die erklärung, die am meisten aufklärungsvarianz bietet als „wahr“ betrachtet?“ Wenn das so wäre, müssten mit fortschreitender Kulturentwicklung Aufklärung und Wahrheit immer mehr zunehmen und gegenläufige Tendenzen völlig unerklärlich bleiben. Anderenfalls verstehe ich nicht, was Du mit „Aufklärungsvarianz“ meinst.

    • sehr schön. wir sehen auch hier, wie analogien, und nichts anderes ist doch die memetik, an ihre grenzen stossen. und wieder finde ich es äusserst ertragreich, genau diese auszuloten.

      mein kritikpunkt war weniger, dass ich die identität der meme bestreite sondern, und das habe ich vielleicht etwas unklar ausgedrückt, dass ich ihnen das attribut „autonom“ nicht geben würde (ausser eben mit explizitem bezug auf determinismus). ebenfalls stimme ich dir zu, dass wir eine idee unterschiedlich auffassen können, nur kann man eine idee auch als ein komplexes gebäude von memen sehen. sprich selbst, wenn wir unterschiedlicher auffassung darüber sind, was „gedankeneinheit mem“ genau bedeutet, überschneidet sich die idee in verschiedenen punkten doch, sonst könnten wir auch nicht miteinander darüber diskutieren. vielleicht müsste man dann jedoch analog den phonemen, sememen und graphemen von „mememen“ sprechen – also von einer kleinsten, bedeutungsunterscheidenden gedankeneinheit und nicht nur gedankeneinheit. in der genetik wären das vermutlich die nukleotide. eine ganze idee wäre dann analog dem gen eine zusammensetzung von verschiedenen „nukleotiden“. dabei stosst die analogie hier wieder an seine grenzen, da es nur 5 nukleotide gibt. kann es eine begrenzte anzahl an (me)memen geben?

      bereits bei genen ist die wahrscheinlichkeit, dass ein identisches gen in zwei trägern vorkommen unglaublich klein (ausser zwillinge), weil sie eben aus einer grossen anzahl von nukleotiden – den kleinsten bedeutungsunterscheidenden geneinheiten – zusammengesetzt sind. bei memen scheint mir die komplexität noch um ein vielfaches grösser, was die wahrscheinlichkeit noch niedriger hält, dass zwei träger das identisches mem „gedankeneinheit mem“ aufweisen ;)

      was anderes ist ein wissenschaftlicher diskurs als der abgleich von mem-material, also das ausfindig machen unterschiedlicher mememe?

      welche kriterien würdest du denn ansetzten, als begründigung wieso sich bestimmte kulturmuster durchsetzten und andere nicht? sind es nicht genau identität, also das selbstkonzept einer person (nicht mehr auf meme bezogen) und die aufklärunsvarianz, welche ich hier mal als anteil der zusätzlich zustande gekommenen kausalverknüpfungen umschreibe, die entscheiden, ob eine idee oder auch nur ein teil eines mems (memem) „angenommen“ wird oder nicht? wie entscheidest du, ob du etwas (einen link) twitterst oder nicht? der faktor „selbstkonzept“ kann anti-aufklärerische tendenzen mit konstrukten wie selbstwerterhaltung und derartigem erklären.

      beispiel occupy. jede person hat eine unterschiedliche wahrnehmung dieser bewegung, jede person scheint etwas anderes unter #occupy zu verstehen, das wird u.a. auch an den sehr diversen forderungen, wie die gegenwärtige krise am besten bewältigt werden sollte, ersichtlich und dennoch haben sehr viele leute einen kleinsten gemeinsamen nenner gefunden. das mem occupy ist in jedem träger individuell ausgeprägt, aber mindestens eine kleinste bedeutungsunterscheidende einheit muss diesen vorstellungen von #occupy doch gemein sein, auch wenn’s nur das besetzten oder die empörung ist.

  8. Ich denke, dass gerade die Denkanweisung, die kleinste bedeutungsunterscheidende Gedankeneinheit zu suchen eher irreführend ist. Das einzige, was man dabei finden könnte, wären eventuell logische Verhältnisse, ohne die das Denken nicht funktionieren würde und selbst das wäre problematisch. Aber räumen wir mal ein, wir hätten auf diesem Weg eine wohldefinierte Logik gefunden, so wären es doch nur formale Ausdrücke und Operationsanweisungen. Aber keine Inhalte in dem Sinne eines bestimmten oder meinetwegen auch nur einen Teil eines Gedankens über die Welt.
    Sobald Du den geschlossenen Denkraum der Logik verlässt und eine wahre Aussage über die Welt treffen willst musst Du unweigerlich eine Referenz zu etwas herstellen, auf das sich die Logik bezieht. Spätestens hier fangen dann die Probleme an. Nicht unbedingt im alltäglichen Umgang mit der Welt, aber wenn Du die Art dieser Bezugnahmen analytisch z.B. durch kognitive Nukleoide o.ä. fassen willst.

    Gehen wir zunächst einmal vom Zeichen aus, was vielleicht noch am einfachsten als eine kleinste Informationseinheit zu fassen wäre. In Deinem Beispiel ist das ein komplexes Zeichen, das Wort Occupy. Du nimmst an, dass alle Menschen damit eine Art kleinsten gemeinsamen Nenner verbinden. Obwohl sich das bezweifeln ließe, will ich es zugunsten eines anderen Gedankens mal einräumen. Wir wissen nicht, was die Zukunft bringt, aber stellen wir uns mal vor, aus Occupy würde eine Revolution und die Revolution bräche in Gewalt aus, die Gewalt schlägt irgendwann in schieren Terror um, der sich auch gegen Dinge richtet, die ursprünglich nicht Gegenstand der Empörung waren und von vielen Anhängern der Bewegung sogar verteidigt werden. Die Bewegung beginnt sich also zu teilen: in diejenigen, die das „Mem“ mit Gewalt durchsetzen wollen und diejenigen, die sagen, das ist nicht mehr unser „Mem“, ihr setzt etwas ganz anderes durch. Aber beide sagen und denken #occupy. Wer von beiden hätte dann Recht? Notwendiger Weise diejenigen, die es in die Welt gesetzt haben und die Radikalisierung wäre dann meinetwegen eine Mutation, aber jedenfalls etwas anderes; oder wäre die Radikalisierung nur die vollständige Entfaltung der ursprünglichen Bedeutung und ihre Befreiung von seinen unreinen Zutaten? Oder hätten beide Recht: Worin bestünde dann aber noch ihr kleinster gemeinsamer Nenner?

    Wenn es nur „etwas besetzen“ wäre, dann wäre das ja auch nicht das Mem, denn etwas besetzen kann jeder und hat auch jeder schon ohne #occupy. Dasselbe gilt auch für Empörung. Auch dafür brauchen wir occupy nicht. Es muss also schon etwas Spezifischeres sein. Sobald Du aber zu spezifizieren anfängst, wirst Du sehr schnell auf jemanden treffen, der zwar #occupy denkt, sich aber mit dem nicht einverstanden erklärt, was Du eben spezifiziert hast. Deswegen würde ich eher sagen, die Bewegung lebt gerade von der Unbestimmtheit dessen, was sie verbindet. Es ist eben nichts Identisches, sondern etwas Nicht-Identisches, das sich nur aus der Komplexität dessen erklären ließe, in der es zustandekommt. Solche Ereignisse lassen sich nur in Konstellationen erfassen und wenn einmal tatsächlich so etwas wie eine Identität daraus hervorgehen sollte, dann steht sie nicht am Anfang, sondern am Ende des Prozesses.

    Ich glaube daher auch nicht, dass Menschen sich einigen, weil sie ein gemeinsames Mem angenommen haben; sondern weil sie sich in einer Sache einigen, wird ein gemeinsamer Bezug hergestellt, den man dann nachträglich als etwas Gemeinsames identifizieren kann. Das Gemeinsame dann aber als etwas zu bestimmen, das vorher schon da war, würde ich eben für eine Verdinglichung halten. Und es als etwas zu sehen, das unabhängig von dieser Konstellation Bestand hat auch. Weil es ja eben von der Konstellation abhängt. Wenn es aber ein Phänomen ist, das nur in Konstellationen vorkommt, scheint mir der Ausdruck von einer kleinsten identifizierbaren Einheit nach dem Modell eines Nukleotids irreführend. Denn er erweckt den Eindruck, man könnte durch analytische Isolation dingfest machen, was nur nur in komplexen Interaktionen zu finden ist.

    Du wirst nicht wie in einem biochemischen Labor ein Mem in einem Reagenzglas isolieren können.

    • „Die Bewegung beginnt sich also zu teilen: in diejenigen, die das „Mem“ mit Gewalt durchsetzen wollen und diejenigen, die sagen, das ist nicht mehr unser „Mem“, ihr setzt etwas ganz anderes durch. Aber beide sagen und denken #occupy.“

      was heisst, „beide sagen und denken #occupy“? meme unterstehen einer ständigen dynamik. wenn nun eine grössere gruppe beginnt #occupy gewaltsam zu konnotieren, wäre ich davon überzeugt, dass die leute, die dann sagen „das ist nicht mehr unser „Mem“, ihr setzt etwas ganz anderes durch“, sich mit diesem mem nicht mehr identifizierten, es also auch nicht mehr weiterverbreiteten (-> identität als faktor der memverbreitung). sichtbare gewalt wäre in demfall ein starkes zeichen, das dem mem #occupy eine neue kompontente (memem?) hinzufügte. gerade weil es bis anhin mehrheitlich friedlich verlief, können sich so viele mit dem mem identifizieren, auch wenn keine identität des gesamten verständnisses von #occupy vorliegt. sprich das „denken und sagen“ verändert sich.

      „dafür brauchen wir occupy nicht.“

      occupy steht nicht nur für besetzten oder empörung. es steht für ganz vieles (komplexes memem-gebäude). und gerade durch die legere definition ohne einen breiten gemeinsamen nenner, findet es derzeit so grossen anklang. zu sagen, die idee des besetzens und der empörung gebe es bereits, also braucht es occupy nicht, ist wie zu behaupten, schrift und bleiguss waren für sich ja bereits existent, wieso also ein wort oder eine technik namens buchdruck erfinden? vielleicht ist es ja genau die verbindung von empörung und besetzung, das dem mem #occupy eine solche verbreitung beschert.

      „wird ein gemeinsamer Bezug hergestellt, den man dann nachträglich als etwas Gemeinsames identifizieren kann.“

      genau das könnte man doch als abgleichen von memen betrachten. jeder hat sein vorwissen, seine memstrukturen, die via kommunikation dann verglichen, eventuelle unterschiede festgestellt und bei einverständnis auch angeglichen werden können.

      „Wenn es aber ein Phänomen ist, das nur in Konstellationen vorkommt, scheint mir der Ausdruck von einer kleinsten identifizierbaren Einheit nach dem Modell eines Nukleotids irreführend. Denn er erweckt den Eindruck, man könnte durch analytische Isolation dingfest machen, […]“

      auf diesen einwand hin möchte ich nochmals auf mentale konstrukte verweisen. die psychologie lehrt uns, dass mentale konstrukte nie direkt erhoben werden können. sachen wie kultur, was ja auch ein mentales konstukt ist, aber auch begriffe wie intelligenz, sympathie, persönlichkeit, identität etc. gehören zu dieser kategorie. sie alle haben gemein, dass sie nicht direkt fassbar sind. handelt es sich nun nach dir immer um eine verdinglichung, wenn versucht wird, solche konstrukte fassbar zu machen? ist ein intelligenzquotient, der ja nicht intelligenz direkt erhebt, sondern das abschneiden in aufgaben, von denen man annimmt, dass intelligente leute sie gut lösen, im vergleich zu der gesamtpopulation darstellt auch eine verdinglichung? und wenn ja, wäre dies ein grund, die ganze forschung auf dem gebiet der operationalisierung mentaler konstrukte, wozu ein grossteil der psychologie gehört, zu versenken? in anderen worten: ist die memetik, nur weil ein mem nicht analytisch in einem labor isoliert werden kann, ein sinnloses konstrukt? ich könnte mir gut vorstellen, dass annäherungen an die isolation eines mems via befragungen durchaus gemacht werden können. peter kruse hat z.b. eine sehr interessante erhebungstechnik erfunden (video), mit der versucht wird, das sehr komplizierte mentale konstrukt „implizite bewertungen“ zu erheben (verdinglichung?). auch in seinem republica vortrag präsentiert er ergebnisse, welche mit dem „nextexpertizer“ erhoben wurden.

  9. […] habe in älteren blogposts (1 & 2) bereits versucht aufzuzeigen, dass sinn nicht gestiftet, sondern selegiert wird. neues wird immer […]

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